Am 17. November 2021 fand die inzwischen zweite Jahrestagung im Onlineformat statt, die mit fast 100 Teilnehmenden in der Hamburger Fachöffentlichkeit und darüber hinaus großen Anklang fand.
Welche geschlechtsspezifischen Unterschiede zeigen sich beim Konsum- und Suchtverhalten und wie kann vor diesem Hintergrund eine gendersensible Suchthilfe gelingen? Diese Fragen standen im Mittelpunkt unserer diesjährigen Tagung. Das Programm bot neben drei Impulsvorträgen im Hauptraum ausreichend Raum für Diskussionen in Form einer virtuellen Podiumsrunde sowie die Möglichkeit zu Kleingruppendiskussionen in einem „Praxischeck“ am Vormittag. Der Nachmittag widmete sich mit zwei Parallelsessions dem breiten Spektrum von Genderfragen und Sucht in insgesamt acht verschiedenen Workshops.
Die Web-Konferenz wurde mit einem Vortrag von Prof. Dr. Heino Stöver von der Frankfurt University of Applied Sciences eröffnet, der deutlich machte, dass sich die Ursachen für Substanzgebrauchsstörungen zwischen den Geschlechtern zum Teil deutlich voneinander unterscheiden. In Hamburg ist gendersensibles Arbeiten in den Einrichtungen der Suchthilfe seit vielen Jahren fest verankert, bundesweit betrachtet sollte es unbedingt zur Regel und nicht, wie bisher, als „nice to have“ betrachtet werden. Denn Suchtarbeit kann nämlich nur dann effizient und erfolgreich sein, wenn sie zielgruppenspezifisch und lebensweltnah ist und sich an den individuellen Erfahrungen, Bedürfnissen und Ressourcen der Klient*innen orientiert, führte Prof. Dr. Stöver weiter aus.
Frau Dr. Brigitta Lökenhoff von der Landesfachstelle Frauen und Familie BELLA DONNA der Suchtkooperation NRW berichtete in ihrem Vortrag darüber, dass die Corona-Pandemie bei vielen Frauen mit Suchtproblemen als Krisenverstärker gewirkt hat. So erlebten viele Frauen seitdem (noch) häufiger Gewalt in Beziehungen, auch die materiellen Sorgen haben bei vielen von ihnen zugenommen. Das wahre Ausmaß der psychischen und emotionalen Schäden wird sich erst zeigen, wenn sich die Lebenssituationen der Klientinnen und die Arbeitsbedingungen für die Beratungsfachkräfte wieder „normalisiert“ haben, so die Einschätzung von Frau Dr. Lökenhoff.
Die beiden Inputs am Morgen wurden ergänzt von einer überaus lebhaften virtuellen Podiumsrunde mit Katrin Bahr (Condrobs München), Dietrich Hellge-Antoni (Fachabteilung Drogen und Sucht, Sozialbehörde FHH), Susanne Herschelmann (Kajal - Frauenperspektiven e.V. Hamburg), Cornelia Kost (4Be TransSuchtHilfe – Therapiehilfe gGmbH Hamburg), Birgit Landwehr (Frauenperspektiven e.V. Hamburg) und Prof. Dr. Heino Stöver (Frankfurt University of Applied Sciences).
Die Diskutant*innen machten in ihren Eingangsstatements deutlich, warum die geschlechtssensible Suchtarbeit und -prävention kein „nice to have“ sind, sondern essentiell für eine professionelle Suchtarbeit ist. Alle waren sich einig., dass die geschlechtsspezifischen Lebenswelten und damit verbundenen Herausforderungen ihrer Klient*innen immer und ausnahmslos in der Beratung und Behandlung von Suchterkrankungen berücksichtigt werden müssen und zu häufig leider immer noch nicht der optimale Rahmen für eine geschlechtsspezifische Suchtberatung und -behandlung insbesondere für Frauen gesetzt wird.
Ein spannender Aspekt der Diskussion war die Debatte um Männlichkeit und Weiblichkeit als binäre Ordnungsprinzipien unserer Gesellschaft die gleichzeitig das Konsum- und Suchtverhalten prägen. So ist Männlichkeit zum Beispiel mit „Risikofreude“ konnotiert, Weiblichkeit etwa mit Selbstkontrolle. Menschen, die eine für ihr zugewiesenes Geschlecht „untypische“ Suchterkrankung entwickeln, werden zusätzlich stigmatisiert. Unter anderem deswegen trinken Frauen zum Beispiel häufig heimlich. Nicht-binäre Menschen kommen in dieser binären Ordnung meist gar nicht vor bzw. werden nicht mitgedacht. Hier besteht deutlicher Entwicklungsbedarf, nicht nur in der Suchthilfe sondern in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen, sowie im Bildungs- und anderen Hilfesystemen. Die offenen Diskussionspunkte wurden zum Teil im anschließenden Praxischeck weiter diskutiert
Nach der Mittagspause informierte Frau Dr. Monika Vogelgesang von der Median-Klinik Münchwies in ihrem Beitrag über Möglichkeiten der geschlechtssensiblen Therapie von Abhängigkeitserkrankungen. Sie verwies darauf, dass alkoholabhängige Frauen im Unterschied zu Männern häufiger heimlich trinken, insbesondere weil ihrem Konsum weniger Verständnis entgegengebracht wird und Alkoholabhängigkeit bei Frauen deutlich schambesetzter ist. In der frauenspezifischen Suchttherapie kommt es deshalb unter anderem darauf an, gesellschaftliche Normen – zum Beispiel hinsichtlich der Selbstwertdefinition von Frauen über das Aussehen, dem Streben nach „Perfektion“ oder der Erfüllung von Erwartungen anderer Menschen – zu hinterfragen und achtsam gegenüber eigenen Bedürfnissen zu sein.
Am Nachmittag hatten die Teilnehmenden dann die Möglichkeit, sich in acht themenspezifischen Workshops auszutauschen, deren Zusammenfassung Sie hier herunterladen können.
Vorträge zum Download:
Prof. Dr. Heino Stöver - Gender und Sucht. Wie kann gendersensible Suchtarbeit gelingen?
Dr. Brigitta Lökenhoff - Suchtmittelkonsum und frauenbezogene Suchthilfe in der Pandemie
Dr. Monika Vogelgesang - Geschlechtspezifische Therapie von Abhängigkeitserkrankungen
Die Vortäge können auch auf unserem YouTube-Kanal angesehen werden
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